Chinesischer Turm
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Aus der Geschichte der Ertsbesteigungen

"Der Chinesische Turm"

von Rudolf Fehrmann

    gekürzte Fassung ungekürzte Fassung
   

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Es war im Juli 1904; von Rathen kommend, fielen wir bei Hermsdorf ins Bielatal hinab, und die andere Hälfte zu dem „wir" war Franz Goetze.
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Das Bielatal mit seinen Felsen war uns noch ganz neu. Wir wussten nur, dass irgendwo die Herkulessäulen balancieren mussten als ein ständiger Hohn auf die Vorschriften des Baugesetzes und dass Walter Stein eine Handvoll Neubesteigungen gemacht und für ihre Benennung einen guten Teil der griechischen Mythologie verbraucht hatte.
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Am anderen Morgen brachen wir schon sehr zeitig auf.
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Missmutig ... schlenderten ein kurzes Stück talauf durch Heidelbeerkraut und Krüppelwald, bis wir in eine Versammlung eigenartiger Gesellen gerieten: der eine hockte bucklig da, der andre hatte starke Schlagseite gegen die Biela hin, der dritte dagegen wuchs schlank und gerade wie ein Kirchenlicht empor; aber dem Bloßstock wollte keiner ähnlich sehen. Schließlich sagten wir uns, dass das ja eigentlich kein Hindernis für eine Neubesteigung sei, und entschlossen uns, dem „schlanken, geraden" der drei Genossen unsern Besuch zu machen. Einen Namen fanden wir auch für ihn, noch ehe er reif zur Taufe war: Nach den eigenartigen, ausladenden Gesimsen, die von Westen her an einen chinesischen Glockenturm erinnerten, sollte er Chinesischer Turm heißen (d. h. falls wir hinaufkämen!). 
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 An der Südostseite, der wir uns dann zuwandten, war der Weg fürs erste von der Natur vorgeschrieben: Von einem bewachsenen Vorblock aus musste man bis etwa Manneshöhe einen Spalt hochsteigen, dann steil rechts an einer Felsrippe empor zu einem griffigen Riss und durch diesen zu einem tiefen Felsloch klettern. Der Übergang über dem Loch und die Wand darüber sahen freilich feindselig aus, der Fels war ganz senkrecht und offenbar von tückischer Brüchigkeit aber bis dahin hatte es ja noch gute Weile. Verhältnismäßig rasch erreichte ich das Felsloch; freilich, was man angriff, brach weg, und der Riss bis dahin war mit Steinen und Blöcken förmlich ausgestopft, die erst „aufgeräumt" werden mussten. So begleitete ein Trommelfeuer von Felsbrocken meinen Weg. Der eine schlug unser schönes neues Seil in Stücke, ein anderer zersplitterte eine morsche Kiefer, einem dritten konnte Freund Goetze nur durch einen raschen Seitensprung mit knapper Not entgehen. So, jetzt war ich im Felsloch was nun? Ich versuchte, mich nach der Westseite hindurchzuzwängen, bemerkte aber bald, dass der Körperbau des Menschen hierfür ganz unzweckmäßig eingerichtet ist, da die Rippen keine Gelenke haben und sich daher nur ganz ungenügend zusammendrücken lassen. Lange beschäftigte ich mich damit, mit einem Meißel alle vorstehenden Zacken an den Wänden des Spaltes wegzuschlagen und alle eingewachsenen Quarzklumpen herauszukratzen, um dann vielleicht doch noch durchzukommen. Das hatte aber nur den Erfolg, dass der Meißel schließlich klirrend in der Tiefe des Risses verschwand, wo er noch heute liegen muss. Über alledem mochten seit meinem Einsteig zwei Stunden oder mehr vergangen sein. Genau weiß man das ja beim Klettern nie, da hierbei der Zeitsinn fast immer aussetzt. Da es mit dem „Durchbruch nach Westen" nichts wurde, versuchte ich, an der Anstiegsseite den Überhang über der Höhle zu nehmen. Als es allein nicht gehen wollte, ließ ich Freund Goetze nachkommen. Ich trat auf seinen Rücken und seine Schultern, ich packte einen Griff nach dem ändern und ließ sie wieder los, ich setzte den Fuß hoch und nahm ihn wieder zurück; aber ich vermochte mit dem Fels zu keiner Verständigung zu kommen. Natürlich waren die Griffe schuld, denen kein ehrlicher Mensch trauen konnte, und meine halblahme rechte Hand, die noch von einem Sturz an der „Esse" steif war, war schuld bloß ich selbst war ganz unschuldig an dem Misserfolg. Dass ich vielleicht heute bloß nicht den nötigen Schwung hatte und etwas zu sehr um mein kostbares Leben bangte, davon konnte natürlich keine Rede sein, das durfte man nicht zugeben, ohne seinem Rufe als Mann vom „Schwarzen Kamin" empfindlich zu schaden. Eine Zeitlang hockten wir zusammengequetscht in der Höhle, bis ich mich endlich darauf besann, was ich meinem Klub schuldig war, und erklärte, ich wolle einen nächsten Versuch machen. Goetze stemmte sich gegen die Wände des Felslochs, als wollte er den Turm auseinander sprengen, und von ihm am Seil gehalten, lehnte ich mich ganz nach rechts an die Wand hinaus, scheu mit den Augen schielend und mit der Hand den Fels abtastend. Da fand ich denn eine wundervolle senkrechte Leiste. Vorsichtig zog ich die andere Hand nach. Dann verlässt der Körper den sicheren Zufluchtsort und hinaus geht es ins Ungewisse. Ich setze das Knie an, dann den Fuß, die Hände krampfen sich ins Gestein, die Nägel krallen sich ein. Ein Zug, ein Ruck, der krumme Buckel streckt sich lang, und dann stehe ich irgendwo im Unbekannten zwischen Himmel und Erde. Mein Gott, ist die Wand steil! Aber die Würfel sind gefallen, der Bann ist gebrochen nur vorwärts, nur aufwärts! Dort links oben muss eine Felsschulter sein. Wenn ich nur erst an der Schulter wäre! Ganz langsam, ganz vorsichtig winde ich mich aus dem Überhang heraus, dann geht's nach links. Für die Füße finden sich ein paar dünne Schalen; wer kann diesen hinterhältigen Gebilden trauen? Die weißen Kletterschuhe setzen sich darauf, als wären sie aus feinstem Glase. Der schwere Menschenleib hängt fast nur an den Fingern. Noch ein Stück nach links, jetzt wieder aufwärts, im Zickzack durch die Hindernisse gottlob, da drüben: die Schulter, die Schulter. Freudiger als ich kann Columbus nicht „Land, Land!" gerufen haben. Aber jetzt hören auf einmal die guten Griffe auf. Die lahme Hand will gar nicht mehr mittun. Ein überhängender Spalt gibt nur notdürftigen Halt. Ein Schritt noch, nur noch ein Schritt bis zur Schulter. Da zerbricht plötzlich das Gestein unter den Fingern. Die Hand greift ins Leere, der Körper baumelt zurück, das Blut schießt in den Kopf, der Himmel und die Felsen und der Wald, alles verschwimmt vor den Augen. Aber die Linke, treu und unerschütterlich hält sie an dem Felsen fest, der mächtige Ruck kann sie nicht beirren, sie hält, sie hält. Der Körper schwingt an die Wand zurück. Die Rechte packt wieder zu. Nun der große, weite Schritt nach links, und die Schulter ist gewonnen. Noch fliegt der Atem, noch schlägt das Herz bis an den Hals herauf; aber ich bin gerettet, gerettet wie schon manches Mal zuvor und später noch. Inzwischen klemmte der Freund gelangweilt in der Höhle, nur am Seile, das er Zoll um Zoll nachgab, abmessend, wo ich wohl sein könnte. Was da draußen an der Wand vor sich ging, davon sah und hörte er nichts. Von der Schulter versuchte ich geradewegs über die griffarme Wand zum Gipfel zu steigen; aber das ganze Gestein war dort mit Flechten überzogen, die beim Zugreifen abblätterten. Deshalb ging ich ein Stück in die Südostwand zurück und gewann von da alsbald die höchste Spitze. Ein „Bergheil!" schrillte hinaus in die Landschaft, dass von den Bäumen die Waldvögel erschreckt auf und davonflogen. Aus der Grotte, darin Goetze saß, klang es in Jubel zurück: „Bergheil, Bergheil!" Kein Zeichen war auf dem Gipfel als Siegesmal des erobernden Menschen. So war's mir gewiss: Es ist Neuland, das der Kletterschuh betrat, niemand vor mir hat je auf dem Scheitel dieses Turms gestanden.

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aus [19] Nr 18 und 19 1926

   

 

letzte Bearbeitung: 24.12.02

 

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