Damals,
im August 1922, feierte mein Dresdner Kletterklub Edelweiß (KED 08)
unbeschwert und überschwenglich beim väterlichen Freund Richter im »Kleinen
Wasserfall« Stiftungsfest. Tagsüber, wenn Richter nicht gerade am
Bierhahn drehte, ließ er für 10 Pfennig den angestauten Wasserfall
rauschen. Regelmäßig zog er aber dann am Seil, wenn die wacklige
Kirnitzschtalbahn am »Beuthenfall«, wie die Haltestelle offiziell heißt,
stillstand. Da staunten die Touristen.
Wie
das dann eigentlich alles so kam, weiß ich bis heute nicht. Unsere »Alten
vom Berge«, Georg Wollmann und Toni Verino — damals Ende Zwanzig —,
zogen den jungen Marschierer, gerade erst achtzehn, ins Vertrauen. Der von
Rudolf Fehrmann verfaßte Kletterführer bestand zu dieser Zeit kurz vor
der Neuauflage (1923) nur noch als Torso; man lebte von Überlieferungen
und Gerüchten. Meine eigene Phantasie aber war für irgendwelche Probleme
im Fels noch zu farblos.
Es ging um ein altes
Vorhaben am Bloßstock zwischen Klemmwand und Altem Nordweg. Otto Bedal,
mein Klubrivale, hatte schon aufgegeben. Wie zu hören war, auch Ehrhardt
Renger von der FKV. Der große Anstiegsüberhang und die bedenkliche
Ausstiegsrinne blieben bis zu jenen Tagen das große Fragezeichen.
Ich stehe also am 13. August 1922 bereits um 6 Uhr morgens auf meinem
1,85-Meter-Super-Baumann unter dem großen Felsdach. »Spund« hat
Schultern von mindestens 60 Zentimeter Breite: Ein Denkmal von Mannsbild
— August der Starke hat eben doch stattliche Nachkommen hinterlassen!
Mit dieser Baustelle
beginnt hier der eigentliche Edelweißweg, vom Alten Nordweg aus, vorn
direkt unter dem lieblichen Überhang. Obgleich mir eine Woche vorher
bereits ein ebenfalls altes Problem in Niedergrund gelungen ist, zwei
Wochen später soll der Erkerweg am Vorderen Torstein glücken — ich bin
also in Hochform —, jetzt habe ich doch stille Angst unter dem
Seilknoten. Meine 60 Kilo scheinen die mächtigen Schultern von unserm »Spund«
nicht zu beeindrucken. In dieser imposanten Stellung erwische ich bereits
die windigen Platten mit den Fingerspitzen. Mein Baumann wächst langsam
noch einige Zentimeter, und ich greife entschlossen in die brüchigen
Felsrippen. Ich ziehe mich mehrere Male hoch, immer leicht überhängend,
die linke Schulter in die Rißrinne verklemmt, und bin schließlich am
zweiten Bauch, rund 5 Meter über dem Kameraden. Alles geht unerwartet
schnell und geräuschlos. Ich bin fast erschrocken, daß die erste Schlüsselstelle
bereits hinter mir liegen soll. Mit Zögern wäre an dem Dach sicher auch
nichts zu machen. Im gleichen Augenblick wird mir aber klar, daß es von
hier kein Zurück gibt.
An dieser Stelle habe ich
den ersten Sicherungsring geplant, denn bis zum Rißeinstieg liegen noch fünfzehn
schwere Meter vor mir. Den Wegverlauf haben wir von unten mit dem Glas
ausgemacht. Mögliche Überraschungen bleiben zunächst verborgen. Vor mir
also halbwegs zweifelhaftes Neuland:
teilweise noch überhängend,
dann schwierige Reibung, und die ganze Pracht ist vorerst äußerst brüchig.
Eine Sicherung kann ich
in diesem überhängenden Gelände nicht anbringen. Ich darf keine Zeit
verlieren, die Stellung kostet Kraft. Hammer, Ring samt Eichenholzkeilen
habe ich schnell bereit. Doch beim ersten Schlag pfeift der Meißel höhnisch
in großem Bogen 40 Meter tief durch die Luft. O Schreck! —
Leichtfertigerweise habe ich die Handschlaufe nicht sofort angelegt, und
jetzt kann es kritisch werden.
Wir jungen Kletterer
strenger Richtung wollen am Fels nicht pathetisch sein; so etwas macht
sich hinterher am Biertisch besser. Aber mir ist klar, daß ich in den »Alten«
unter mir ganze Kerle habe, auf die ich mich in jeder Lage verlassen kann.
Sie rufen mir zu, daß Schorsch bereits den Quergang zurückgeht, um
anschließend den riesigen 20-Meter-Blockkamin hinabzuspreizen und den Meißel
zu holen.
Meine Lage wird immer
ungemütlicher, die Kräfte lassen nach. Mir kommen Zweifel, wie das
Unternehmen ausgehen wird. Für mich eine Ewigkeit, aber nicht ganz 10
Minuten später ruft und winkt Schorsch unten vom Waldboden mit dem glücklicherweise
sofort aufgefundenen Meißel. Mir geht es gleich wieder besser. Am
Reserveseil wird der »Ausreißer« zum Band hochgezogen, und mir bleibt
nichts übrig, als am eigenen 18-Millimeter-Seil unter Verzicht auf jede
Sicherung dieses Biest wieder in den Griff zu bekommen. Nach einigen
Hammerschlägen in glücklicherweise weichem Fels riskiere ich, eine
Schlinge über den Meißel zu hängen. Ehe ich die 10 Zentimeter Tiefe für
den Ring schaffe, ist meine Kraft nun doch am Ende. Endlich schnappt der
schwere Eisenkarabiner ein — er wäre der Stolz jedes Feuerwehrmannes
—, und ich atme hörbar auf. Die Episode hätte leicht das Ende meiner
Kletter- und sonstigen Laufbahn werden können.
Eine bange Stunde ist
vergangen. Nachholen scheint mir an dieser Stelle nicht ratsam; deshalb
gehe ich sofort weiter. Meine verspannten Gliedmaßen gehorchen zunächst
nur höchst unwillig. Die folgenden 15 Meter steige ich ohne jede
Zwischensicherung vorsichtig, aber zügig aufwärts. Inzwischen bin ich
wieder voll da und stehe bald am Band, direkt unter dem gut 20 Meter hohen
Ausstiegsriß. Die Freunde unten jubeln.
Jetzt schlage ich bequem
den zweiten Ring, wenngleich der Standort sehr exponiert ist. Vier Berggefährten
wollen mir auf dem Weg heute folgen. Ich hole nach.
Schorsch, der »Alte«,
dieses Prachtstück, steigt überraschend schnell und ist bald an meinem
Stand. Ich kann mir nun eine längere Pause gönnen. Die Entscheidung fällt
erst später am Gipfelausstieg, das ist mir bewußt. Was soll's, bei
meinem jugendlichen Auftrieb gibt es sowieso nur eine Möglichkeit:
hinauf!
Weitere Verstärkung,
Sicherungsleute für die Baustelle am Rißeinstieg, müssen herauf. Da
passiert es. Toni steigt nach, hat aber zuvor am Ring nachgeholt.
Unerwartet bricht ihm ein Griff aus, und er landet im Pendel genau am Kopf
unseres vierten Mannes, der am Sicherungsring steht. Beide sind von dem
unerwarteten Zusammentreffen arg benommen. Jetzt sortieren sie mühselig
und zeitraubend Glieder und Seile. Dann ist längere Zeit Pause.
Vom Wetter reden wir
heute nicht. Die Sonne brennt, der Fels wird immer wärmer. Das gibt
Durst. Auf der Unteren Affensteinpromenade, die am Wandfuß vorbeiführt,
sammeln sich zunehmend fremde Bergsteiger. Die gesamte FKV soll dabei
sein. Man blickt kritisch herauf zu unserm Treiben an der so abweisend
aussehenden Bloßstock -Flanke. Ich habe nicht die Absicht, zu mogeln und
die Gesetze unsrer kompromißlosen Freikletterei zu verletzen. Aber mögen
sie schauen, ich bin heute so unbelastet wie selten und habe versprochen:
»Der Weg wird gemacht!« Wenn das ein Widder sagt, gibt es daran nichts
zu rütteln.
Von unserm Stand aus will
ich durchsteigen und keinen weiteren Ring schlagen. Als die Freunde schließlich
oben und bereit sind, erklimme ich meinen Baumann und bin kurz darauf in
der flachen Rißrinne Richtung Gipfel unterwegs. Da ich mich weder als
Zauderer noch als Spieler fühle, kann ich mich bedenkenlos auf meine
Technik verlassen, und jetzt freut mich dieser Gang nach oben. Schließlich
bin ich ein junger Vogel, der zu den Höhen des Lebens strebt, habe weder
Sorgen noch Kummer mit meiner Umwelt — und die Freunde sind hinter mir.
Das 18 Millimeter dicke
Hanfseil hängt frei bis zur Sicherungsstelle auf dem Band. Eine kleine
Sanduhr mißbrauche ich zu einer »moralischen« Sicherung. Wie wundersam,
daß so ein unscheinbares Gebilde in dieser hohen Wand 60 bis 70 Meter überm
Waldboden merklich helfen kann.
Der Seilzug meines
verdammt schweren Hanftaus macht sich von Meter zu Meter stärker
bemerkbar. Habe ich mir mit dieser Seillänge Unmögliches zugetraut? Die
entscheidende 10 Meter lange seichte, steile Reibungsmulde trennt mich
jetzt noch vom Gipfel. Viel schlimmer aber:
Kameraden sind inzwischen
auf dem Alten Nordweg hinaufgeeilt und wollen mir von oben notfalls ein
Seil geben. So kurz vorm ersehnten Ziel demoralisiert diese Möglichkeit
augenblicklich. Ich fordere die Freunde unmißverständlich auf, sofort zu
verschwinden. Dabei stehe ich bereits über eine halbe Stunde am Beginn
der riskanten Rinne.
Endlich wage ich den
unerläßlichen Antritt, seitlich abgestützt. Dabei muß ich gleichzeitig
mit der Hand das Seil nachziehen. Mit erzwungener Ruhe, allein auf die
Reibung der Hanfsohlen vertrauend, wiederhole ich im Takt mehrmals:
Antreten — Seil nachziehen — hochstützen. Die letzten Meter sind dann
nur noch Routine. »Bergheil!«
Neun Stunden nach unserm Einstieg erreicht der letzte der Seilschaft den
Gipfel. Mit ausgedörrter, heiserer Kehle singen wir gemeinsam mit den übrigen
Bergkameraden mehr laut als schön ein Berglied, das aus den Schluchten
und Wänden der Affensteine widerhallt.
Der imposante neue Weg am König Bloßstock war nach einem Jahr noch nicht
wiederholt. Ich führte dann auch die zweite Begehung durch. Inzwischen
ist der Edelweißweg beliebt und wird von der jungen Generation, die
seither weit schwierigere Probleme gemeistert hat, häufig durchstiegen.
Die sichernden Hilfsmittel wurden mit der Zeit immer besser und die Maßstäbe
sind anders geworden. Glücklicherweise ist aber unsere sächsische
Felsenheimat bis zum heutigen Tag von der unseligen »Schlosserei«
verschont geblieben!
Nach
genau 50 Jahren wollte ich meinen Weg am Bloßstock als Nachsteiger noch
einmal erleben — doch die gewünschte Fahrt zu den heimatlichen Zinnen
blieb mir versagt. So ziehe ich wieder, wie in den zurückliegenden Jahren
so oft, zu den alpinen und noch höheren Bergen.