Chinesischer Turm - ungekürzt
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Aus der Geschichte der Ertsbesteigungen

"Der Chinesische Turm"

von Rudolf Fehrmann

   

gekürzte Fassung

ungekürzte Fassung

   

Das war die Stunde des großen Friedens. Die Sonne hatte ihren Platz am hohen Himmel schon verlassen, der Feuerbrand im Westen verlosch, der Abendhimmel nahm eine Farbe an wie durchleuchtetes Meerwasser, und eine große Rührung ging über die müde Erde. Nun wurden alle Formen weicher, nun wob sich ein Gespenst von Schatten um alle Bäume und über alle Hecken. Tiefer atmete die Natur und ruhiger als am lauten Tage, so weich streicht am Tage ihr Hauch um deine Stirne nicht, so glüht am Tage der Mohn nicht in den Gärten, so strömt am Tage nicht der Duft der Rosen... Schweigend zog ich mit dem Freunde meine Straße und war so unsagbar traurig und so tief glücklich, was ja wohl im Grunde dasselbe ist. Nun kann ich auch sagen, wann und wo das alles war: Es war im Juli 1904; von Rathen kommend, fielen wir bei Hermsdorf ins Bielatal hinab, und die andere Hälfte zu dem „wir" war Franz Goetze. Aber das ist doch ganz äußerlich. Ist es nicht viel wichtiger, wenn ich sage: das war noch in der Zeit, da wir im Schwünge unserer Jugend fähig waren, Königreiche zu verschenken, und es war im Zauberlande unsrer Träume, und der, der an meiner Seite ging, war einer, der wie ich gewillt war, das Gestern und das Morgen zu vergessen, und sich wie ich ganz dem einen und Großen verschrieben hatte, den Bergen und ihrem Glück. Das Bielatal mit seinen Felsen war uns noch ganz neu. Wir wussten nur, dass irgendwo die Herkulessäulen balancieren mussten als ein ständiger Hohn auf die Vorschriften des Baugesetzes und dass Walter Stein eine Handvoll Neubesteigungen gemacht und für ihre Benennung einen guten Teil der griechischen Mythologie verbraucht hatte. Was uns aber eigentlich hergelockt hatte in dieses abgelegene Tal, das war die sagenhafte Kunde, es solle hier noch ein Zwillingsbruder des Bloßstocks unbenutzt in der Gegend herumstehen. So ließ es uns denn auch in Rosenthal, wo wir Herberge nahmen, keine Ruhe, und noch in der zehnten Stunde der Nacht trabten wir zu einem Aussichtspunkt bei der Schweizermühle, konnten aber in der Finsternis nur ganz schwach und dämmerhaft talauf etwas sehen, was möglicherweise Felstürme sein mochten. Wir beschränkten uns daher darauf, um die beiden Säulen des Herkules herumzuturnen und, die Köpfe als Tastorgane benutzend, festzustellen, dass die oft geäußerte Ansicht, der Sandstein sei eine weiche Gesteinsart, offenbar irrig ist. Immerhin nahmen wir die Gewissheit mit: Die kleinere Säule ist bestimmt ersteiglich, bei der größeren ist es zumindest wahrscheinlich. Am anderen Morgen brachen wir schon sehr zeitig auf. Mein Spruch ist: „Frühmorgens wenn's im Osten graut da graut mir's auch!" So sollte uns denn auch das ungewohnte Frühaufstehen sehr schlecht bekommen; ich fühlte mich matt und verstimmt und war alles andre als „in großer Form". Daher ging ich auch nur sehr lässig die Kleine Herkulessäule an und kehrte um, noch ehe ich bis zum eigentlichen Schlüsselpunkt, der Schlusswand, vorgedrungen war. Missmutig verließen wir diese Gruppe und schlenderten ein kurzes Stück talauf durch Heidelbeerkraut und Krüppelwald, bis wir in eine Versammlung eigenartiger Gesellen gerieten: der eine hockte bucklig da, der andre hatte starke Schlagseite gegen die Biela hin, der dritte dagegen wuchs schlank und gerade wie ein Kirchenlicht empor; aber dem Bloßstock wollte keiner ähnlich sehen. Schließlich sagten wir uns, dass das ja eigentlich kein Hindernis für eine Neubesteigung sei, und entschlossen uns, dem „schlanken, geraden" der drei Genossen unsern Besuch zu machen. Einen Namen fanden wir auch für ihn, noch ehe er reif zur Taufe war: Nach den eigenartigen, ausladenden Gesimsen, die von Westen her an einen chinesischen Glockenturm erinnerten, sollte er Chinesischer Turm heißen (d. h. falls wir hinaufkämen!). Vorerst aber bewilligten wir uns für unsern Kampf eine „Offensivzulage" und gingen daran, aus unsern Vorräten ein kräftiges Mahl zu kochen. Freund Goetze entfaltete hierin ein erstaunliches Talent und verwendete dazu das Wasser des Bielabachs, ohne vorher die Bazillen herauszulesen. Neidlos erkenne ich an: Er brachte ein Gericht zusammen, das bis dahin völlig unbekannt war und für das ihm der Erfinderschutz zugestanden werden musste! Durch diese Stärkung wuchs denn auch alsbald unser Mut so, dass wir unserm Gegner zu Leibe rückten. Zunächst packte ich ihn von Westen her an, gab aber den Angriff bald wieder auf, da das Gestein unangenehm glatt wurde; zwei Jahre später führte PerrySmith diesen Versuch in meiner und Walter Hünigs Begleitung als „Nordwestweg" durch. An der Südostseite, der wir uns dann zuwandten, war der Weg fürs erste von der Natur vorgeschrieben: Von einem bewachsenen Vorblock aus musste man bis etwa Manneshöhe einen Spalt hochsteigen, dann steil rechts an einer Felsrippe empor zu einem griffigen Riss und durch diesen zu einem tiefen Felsloch klettern. Der Übergang über dem Loch und die Wand darüber sahen freilich feindselig aus, der Fels war ganz senkrecht und offenbar von tückischer Brüchigkeit aber bis dahin hatte es ja noch gute Weile. Verhältnismäßig rasch erreichte ich das Felsloch; freilich, was man angriff, brach weg, und der Riss bis dahin war mit Steinen und Blöcken förmlich ausgestopft, die erst „aufgeräumt" werden mussten. So begleitete ein Trommelfeuer von Felsbrocken meinen Weg. Der eine schlug unser schönes neues Seil in Stücke, ein anderer zersplitterte eine morsche Kiefer, einem dritten konnte Freund Goetze nur durch einen raschen Seitensprung mit knapper Not entgehen. So, jetzt war ich im Felsloch was nun? Ich versuchte, mich nach der Westseite hindurchzuzwängen, bemerkte aber bald, dass der Körperbau des Menschen hierfür ganz unzweckmäßig eingerichtet ist, da die Rippen keine Gelenke haben und sich daher nur ganz ungenügend zusammendrücken lassen. Lange beschäftigte ich mich damit, mit einem Meißel alle vorstehenden Zacken an den Wänden des Spaltes wegzuschlagen und alle eingewachsenen Quarzklumpen herauszukratzen, um dann vielleicht doch noch durchzukommen. Das hatte aber nur den Erfolg, dass der Meißel schließlich klirrend in der Tiefe des Risses verschwand, wo er noch heute liegen muss. Über alledem mochten seit meinem Einsteig zwei Stunden oder mehr vergangen sein. Genau weiß man das ja beim Klettern nie, da hierbei der Zeitsinn fast immer aussetzt. Da es mit dem „Durchbruch nach Westen" nichts wurde, versuchte ich, an der Anstiegsseite den Überhang über der Höhle zu nehmen. Als es allein nicht gehen wollte, ließ ich Freund Goetze nachkommen. Ich trat auf seinen Rücken und seine Schultern, ich packte einen Griff nach dem ändern und ließ sie wieder los, ich setzte den Fuß hoch und nahm ihn wieder zurück; aber ich vermochte mit dem Fels zu keiner Verständigung zu kommen. Natürlich waren die Griffe schuld, denen kein ehrlicher Mensch trauen konnte, und meine halblahme rechte Hand, die noch von einem Sturz an der „Esse" steif war, war schuld bloß ich selbst war ganz unschuldig an dem Misserfolg. Dass ich vielleicht heute bloß nicht den nötigen Schwung hatte und etwas zu sehr um mein kostbares Leben bangte, davon konnte natürlich keine Rede sein, das durfte man nicht zugeben, ohne seinem Rufe als Mann vom „Schwarzen Kamin" empfindlich zu schaden. Eine Zeitlang hockten wir zusammengequetscht in der Höhle, bis ich mich endlich darauf besann, was ich meinem Klub schuldig war, und erklärte, ich wolle einen nächsten Versuch machen. Goetze stemmte sich gegen die Wände des Felslochs, als wollte er den Turm auseinander sprengen, und von ihm am Seil gehalten, lehnte ich mich ganz nach rechts an die Wand hinaus, scheu mit den Augen schielend und mit der Hand den Fels abtastend. Da fand ich denn eine wundervolle senkrechte Leiste. Vorsichtig zog ich die andere Hand nach. Dann verlässt der Körper den sicheren Zufluchtsort und hinaus geht es ins Ungewisse. Ich setze das Knie an, dann den Fuß, die Hände krampfen sich ins Gestein, die Nägel krallen sich ein. Ein Zug, ein Ruck, der krumme Buckel streckt sich lang, und dann stehe ich irgendwo im Unbekannten zwischen Himmel und Erde. Mein Gott, ist die Wand steil! Aber die Würfel sind gefallen, der Bann ist gebrochen nur vorwärts, nur aufwärts! Dort links oben muss eine Felsschulter sein. Wenn ich nur erst an der Schulter wäre! Ganz langsam, ganz vorsichtig winde ich mich aus dem Überhang heraus, dann geht's nach links. Für die Füße finden sich ein paar dünne Schalen; wer kann diesen hinterhältigen Gebilden trauen? Die weißen Kletterschuhe setzen sich darauf, als wären sie aus feinstem Glase. Der schwere Menschenleib hängt fast nur an den Fingern. Noch ein Stück nach links, jetzt wieder aufwärts, im Zickzack durch die Hindernisse gottlob, da drüben: die Schulter, die Schulter. Freudiger als ich kann Columbus nicht „Land, Land!" gerufen haben. Aber jetzt hören auf einmal die guten Griffe auf. Die lahme Hand will gar nicht mehr mittun. Ein überhängender Spalt gibt nur notdürftigen Halt. Ein Schritt noch, nur noch ein Schritt bis zur Schulter. Da zerbricht plötzlich das Gestein unter den Fingern. Die Hand greift ins Leere, der Körper baumelt zurück, das Blut schießt in den Kopf, der Himmel und die Felsen und der Wald, alles verschwimmt vor den Augen. Aber die Linke, treu und unerschütterlich hält sie an dem Felsen fest, der mächtige Ruck kann sie nicht beirren, sie hält, sie hält. Der Körper schwingt an die Wand zurück. Die Rechte packt wieder zu. Nun der große, weite Schritt nach links, und die Schulter ist gewonnen. Noch fliegt der Atem, noch schlägt das Herz bis an den Hals herauf; aber ich bin gerettet, gerettet wie schon manches Mal zuvor und später noch. Inzwischen klemmte der Freund gelangweilt in der Höhle, nur am Seile, das er Zoll um Zoll nachgab, abmessend, wo ich wohl sein könnte. Was da draußen an der Wand vor sich ging, davon sah und hörte er nichts. Von der Schulter versuchte ich geradewegs über die griffarme Wand zum Gipfel zu steigen; aber das ganze Gestein war dort mit Flechten überzogen, die beim Zugreifen abblätterten. Deshalb ging ich ein Stück in die Südostwand zurück und gewann von da alsbald die höchste Spitze. Ein „Bergheil!" schrillte hinaus in die Landschaft, dass von den Bäumen die Waldvögel erschreckt auf und davonflogen. Aus der Grotte, darin Goetze saß, klang es in Jubel zurück: „Bergheil, Bergheil!" Kein Zeichen war auf dem Gipfel als Siegesmal des erobernden Menschen. So war's mir gewiss: Es ist Neuland, das der Kletterschuh betrat, niemand vor mir hat je auf dem Scheitel dieses Turms gestanden. Der Tag ging zur Neige. Die Sonne näherte sich schon den Spitzen der Fichten am jenseitigen Talhang. Goetze wollte daher für heute nicht mehr nachkommen. Während ich rücklings auf der knappen Gipfelfläche lag und in den blauen Himmel hinaufträumte, stieg er aus seiner Höhle zur Erde zurück, und bald darauf sah ich ihn von der Höhe des Stangeturms so hieß damals der Hallenstein noch zu mir herüberwinken. Endlich kletterte ich zur Schulter zurück; aber von da weiter abzusteigen, schien mir doch zu großes Wagnis. Ein Abseilzacken fand sich nicht. Um einen Eisenstift als Halt für das Seil einzusetzen, dazu fehlte mir der flüchtig gewordene Meißel. Ein Bauernbursche, der zufällig durch den Wald kam, wurde nach Rosenthal geschickt, Meißel und Zement zu holen. Doch die Zeit verrann, es düsterte schon stark, und die Welt verlor ihren Glanz. Der Bursche kam nicht wieder. Unten auf der Straße zog singend und lachend eine Reisegesellschaft vorüber. Als sie mich so einsam auf dem Felsen sahen, blieben alle stehen. Was ich hier oben triebe, fragte man mich. Ich gab zurück, ich sei Feuerwächter und müsse aufpassen, wo etwa ein Waldbrand auskäme. „Kommen Sie lieber zu uns herunter, wir sind drei hübsche, junge Mädels!" „Das sehe ich", log ich, „aber kommen Sie lieber zu mir herauf, da sind wir unter uns!" Schließlich lud uns die Gesellschaft, schon weitergehend, zu einem fröhlichen Abend in der Schweizermühle ein, was wir frohgelaunt zusagten. Endlich, nach zwei Stunden, kam der Bauernbursche wieder. Es war schon völlig Nacht; er hatte die Stelle, wo er uns getroffen, nicht wiederfinden können. Meißel, Zement und Hammer wurden am Seile emporgehisst, und das Eisen erklang im Takte. Aber der Meißel war stumpf, es war kein Vorwärtskommen mit ihm. Da eine Freinacht nicht in unserm Plane lag, schlang ich schließlich das Seil um den Pfeiler, der die Schulter trägt, und ließ mich daran herunter. Es reichte nicht bis zum Boden; deshalb hatte ich ans Ende eine Schlinge geknüpft. In diese trat ich nun und schwang mich in den Wipfel einer Kiefer. Mehr mit Händen und Füßen als mit den Augen suchten wir unsere Siebensachen zusammen und tasteten uns durch den Wald nach der Straße, auf der wir zur Schweizermühle zogen. Es war schon in der 11. Stunde, als wir dort ankamen. Die Gaststube war still und leer, unsere fröhliche Reisegesellschaft längst zur Ruhe gegangen. Als wir am ändern Tage ziemlich spät zum Frühstück kamen, war sie bereits über alle Berge. Wir gingen sofort wieder zu unserm Turm. Ich erstieg ihn auf demselben Wege wie tags zuvor, ohne jeden Zwischenfall. Freund Goetze kam schnell und sicher nach. Auf dem Gipfel setzten wir eine kleine Holzstange als Zeichen unseres Sieges. An der Schulter befestigten wir nun doch einen Eisenstift und seilten uns daran bis auf den Waldboden hinab. Goetze erstieg noch als erster die „Schiefe Zacke", den „buckligen" der drei steinernen Gesellen. Auch den „Schiefen Turm" untersuchten wir näher, ohne jedoch den Gipfel zu gewinnen. Im Scheine des Abendrotes kehrten wir zur Schweizermühle zurück. Ein letztes wehmütiges Leuchten ging über die Stirn der Felsen. Oben auf der Höhe glühte eine Wetterkiefer gleich einer riesigen Koralle rot auf, die verrenkten Arme wie hilfeflehend gegen den Himmel erhebend. Der nächste Tag sah uns auf dem Marsch über Rosenthal und Cunnersdorf den Schrammsteinen entgegen. Immer wieder kehrten die Gedanken zu unserm Chinesischen Turm zurück. In die lachende Freude über den Sieg mischte sich ein leises Bedauern, dass nun ein schönes Problem weniger vorhanden und dass es keine Möglichkeit gab, alles noch einmal so zu durchleben, wie es gerade gewesen war. Oft und oft noch habe ich auf diesem Turme gestanden; mit Nagelschuh und Rucksack sind wir an ihm emporgestiegen und wieder zurück. Man spricht heute nicht mehr von Schwierigkeiten, wenn man seinen Namen nennt. Und doch hat er seine Mission in der Entwicklung unseres Klettersports gehabt: Es war die erste reine, strenge Wandkletterei, an ihm ist eine große Strecke des „moralischen Weges" zurückgelegt worden, an ihm sind die Vorurteile der breiten Menge der Bergfahrer zuschanden geworden, die da meinten, solche Wände seien dem kämpfenden Menschen verschlossen. Um die letzte Technik des Steigens zu beherrschen, bedarf es für viele kaum eines Jahres, um den „moralischen Weg" zurückzulegen von den ersten tastenden Versuchen der Männer wie Ufer, Beck und Hartmann bis zu den Wagnissen unsrer Tage, dazu waren Jahrzehnte nötig. Als ein Wegweiser auf dieser Bahn ragt der Chinesische Turm.

   

 

letzte Bearbeitung: 24.12.02

 

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