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Eine Entdeckungsreise
von Peter Brunnert:
"Bin seit 26 Jahren (obschon fernab wohnend) den Sandsteinen
rechts und links der Elbe verfallen. Eine der vielen denkwürdigen
Geschichten, die der Sandstein mit mir schrieb, habe ich mal in
"klettern" veröffentlicht. Vielleicht ist es ja noch etwas für
Euch."
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Irgendwo zwischen
Hainichen und der Behelfsausfahrt Berbersdorf mußte Matthias sich das
erste Mal übergeben. Drei Tage nach der deutschen Einheit verfügte die
A4 weder über eine Standspur noch über genügend Raststätten -
Einrichtungen, die
zweifelsohne für eine kultivierte Abwicklung solch unangenehmer
Verrichtungen recht hilfreich sind. So mußten die knapp zwei Tonnen
Schwedenstahl kurzerhand mit einer kontrollierten Vollbremsung auf dem Grünstreifen
zum Stehen gebracht werden und Matthias gab die Thüringer Rostbratwurst
mit Pommes rotweiß, die er auf einem Parkplatz zwischen Magdala und
Schorba zu sich genommen hatte, an die Natur zurück. „Vielleicht war
das Fett ranzig“, sinnierte ich, während der Tempomat mit einem kleinen
Ruck das Erreichen der Höchstgeschwindigkeit signalisierte.
„Mmh, schätze eher, das Bier war zu warm.“
Wir überholten einen grün-weiß umgespritzten Lada und grüßten
freundlich hinüber.
„Was ist denn hier angesagt?“
„Hundert“
„Na, die haben wir ja wohl mindestens...“
Der Kundige hat es bereits den Autobahnausfahrten entnommen: Wir waren auf
dem Weg zum Klettern nach Sachsen. Für Matthias sollte es die erste Berührung
mit den sagenumwobenen Elbfelsen werden, der Schreiber dieser Zeilen war
bereits seit geraumer Zeit mit dem Sandsteinbazillus infiziert. Um ehrlich
zu sein: die letzten zehn Jahre vor den hier zu beschreibenenden
Begebenheiten waren ohne echten sächsischen Felskontakt geblieben. Die
Erinnerungen an die in den späten Siebzigern tatsächlich erlebten
Sandsteinabenteuer waren jedoch dafür durch eine übermäßige Lektüre
Hasse’schen Felsenheimatgeschwafels bis zur Unkenntlichkeit verbrämt
worden. Kurz vor Dresden standen wir dann knapp eine Stunde im Stau, was
nicht nur unseren sauberen 140er-Schnitt versaute, sondern auch für die
weitere Folge der zu beschreibenden Ereignisse von gewisser Bedeutung sein
sollte. Zudem verfransten wir uns in Dresden einigermaßen gründlich
(„Irgendwo muß es jetzt hier rechts ab gehen.“), so daß wir unser
Gefährt erst gegen fünfzehn Uhr im Zahnsgrund zum Stehen brachten. Der kühle
Rechner wird rasch auf eine Restlichtzeit von rund drei Stunden kommen,
innerhalb derer gleich welche Sandsteinabenteuer auch immer abzuwickeln
des klugen Steigers Zier gewesen wäre. Je nun - die sandigen Zinnen
lockten derart, daß wir derlei Überlegungen nicht anzustellen in der
Lage waren - es sollte sich grausam rächen.
Auf dem Weg durch den Schießgrund zum Falkenstein gab ich Matthias einen
kurzen Schnelldurchlauf der sächsischen Klettergeschichte - von Oscar
Schuster, dem bescheidenen Sportsmann und Arzt, der 1917 in einem
Internierungslager in Kasachstan völlig entkräfet an Typhus sterben
sollte, bis zum einzigartigen Bernd Arnold, dem nervenstarken Buchdrucker
aus Hohnstein, nicht nur kaltblütig, sondern auch beweglich wie ein
Schlangenmensch.
Beim Anblick des Falkensteins („Das ist der Südriß, Perry-Smith 1913,
der hatte einen Bugatti, damals schon!“) bekamen wir doch erste
Beklemmungen.
„Laß uns was Leichtes machen zu Beginn.“
„Schusterweg“, entschied ich, „ist nur III und der Mega-Klassiker.
Schon 1892 von Otto Schuster erstbegangen. Der wurde übrigens 1927 wegen
Mordes an einem ukrainischen Lagerarzt zum Tode verurteilt. Hab ich mit
Krischan damals solo gemacht. Und den Turnerweg seilfrei wieder runter. Im
Dunkeln. Aber wir seilen heute ab. Alles klar?“
Matthias schaute mich zweifelnd an. „Jaja, wird schon gehen...“
Ich band mich flink ein, warf mir rasch ein paar Knotenschlingen über
(die liegen bestimmt irgendwie) und kontrollierte noch rasch Matthias’
Anseilknoten, was mir angebracht erschien, da er bis dahin außer ein paar
Metern Moderato-Ith noch nichts Nennenswertes an Fels unter sich gebracht
hatte. Sein Zustand war zudem nicht dazu angetan, auf das Beste zu hoffen.
„Vergiß den Rucksack nicht!“ Unsere gesamte verbliebene Verpflegung -
vier Flaschen Bier, eine Frikadelle von Schlachter Piderit und ein Riegel
„Mister Tom“ - wollten wir auf dem Gipfel des Falkensteins im Rahmen
einer zünftigen Gipfelrast ihrer Bestimung zuführen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
„O.k., kannst nachkommen!“ Am Ende der „Porzellankante“ hatte ich
an zwei phantasievoll drapierten Schlingen Stand bezogen.
Mathias mühte sich redlich, konnte aber nur zögernd Höhengewinne
verbuchen, da ihm neben den sechs, sieben Flaschen Warsteiner in seinem
Kopf und den vier auf seinem Rücken auch die Höhenangst reichlich zu
schaffen machte. Nach etlichen Viertelstunden und viel gutem Zureden („Das
hat Ottokar Schuster damals in Nagelschuhen gemacht und wenig später hat
er in Casablanca sogar den Tuberkulosevirus entdeckt“) krümmte er sich
schlotternd neben mir am dürftigen Stand, wo ich ihn einigermaßen
festband.
„Guck einfach nicht nach unten.“
Nach den schrägen Kaminen mußte irgendo ein Ring kommen, so hatte
ich’s im Führer gelesen („Links R vom Krippener Weg“). Lag
es am schwindenden Tageslicht oder am einsetztenden Nieselregen: ich fand
nicht diesen, sondern den dritten Ring der „Tagestour“ (VIIb), der
einige Meter links unserer Route in der Platte prangte und mittels eines
heiklen Reibungsquerganges aus den „seichten Rinnen“ zu erreichen war.
„Stand!“
Matthias’ Zustand besserte sich indes keineswegs, vor allem der unnötige
Reibungsquergang über die feuchten Platten und das Gehampel am Ring
setzten ihm doch mächtig zu. Als wir im Halbdunkel an der
Schusterplakette vorbeikamen, konnten wir seine markanten Gesichtszüge
kaum noch erkennen („So mag er also ausgesehen haben, der große
Meeresbiologe und Internist, der später im Karakorum so unrümlich aus
der Rolle fallen sollte.“).
Der Tiefblick vom Sanduhrstand in die Reginawand war für meinen Partner
dann wieder Anlaß genug, einen klassischen Nervenzusammenbruch zu
inszenieren. Es gelang mir jedoch vortrefflich, ihn abzulenken, da ich nämlich
dreimal am Einstieg in den „unteren Reitgrat“ scheiterte. Das lag
indes nur daran, daß ich ihn zunächst nicht so zu nehmen verstand, wie
er genommen sein will, und wie ihn Wolfgang Schuster, der spätere
kirgisische Nobelpreisträger, wohl auch genommen haben mag.
Mein zitternder Partner indes nahm ihn mit aller Gewalt, wobei er zwei der
vier Bierflaschen zwischen sich und dem Fels zum zerplatzen brachte.
Wie auch immer: wir erreichten den Gipfel bei Dämmerlicht, Berg Heil -
wie weiland Ottmar Schuster, der Erfinder des kaukasischen Kreidekreises -
Gipfelbucheintrag, zweiminütige Gipfelrast -
und rasch hinüber zum Turnerweg.
„Da spring ich nicht rüber!“ Der Turnersprung.
„Los, stell dich nicht so an, da ist Schuster damals schon in
Nagelschuhen rübergesprungen - er, der später Tofu-Botschafter in
Moldavien werden sollte.“
„Nein. Niemals.“
Ich erinnerte mich dunkel, daß man den Turnersprung auch linkerhand
umgehen konnte, was uns eine weitere Viertelstunde auf dem Weg zur
Dunkelheit voranbringen sollte. Die große Stufenreihe zur ersten Abseilöse
tasteten wir uns in völliger Dunkelheit hinunter und die zweite Öse
fanden wir nur Dank meines phänomenalen Gedächtnisses.
„Reicht das Seil jetzt bis zum Boden, ja?“
Matthias war bereit, mit seinem jungen Leben abzuschließen.
„Hm, weiß nicht, ich glaube man muß dann noch durch einen kleinen
Kamin runter. Ist aber total leicht, bestimmt.“
„Nee, das bring ich nicht mehr.“
„O.k., ich laß dich bis zum Boden ab.“
Der Rest des Abends ist schnell erzählt: Matthias brach, als er gegen 21
Uhr sicheren Boden unter den wackligen Füßen spürte, schluchzend im
reichlich vorhandenen Elbsand zusammen. Der Schreiber dieser Zeilen
examinierte im Fach „Nachts-solo-durch-nasse-Kamine-abklettern“. Wider
Erwarten fanden wir den Weg zurück durch den Schießgrund zum Auto, nicht
jedoch den Schlüssel desselben, was uns eine kalte Biwaknacht und
anderntags eine zweistündige Suche am Einstieg des Schusterweges
bescherte, bis Matthias schließlich das Schlüsselbund unter einer
Kiefernwurzel entdeckte.
Der Rest unseres einwöchigen Elbsandsteinaufenthaltes verlief ohne
nennenswerte Zwischenfälle.
Bernd Schuster - wie könnten wir ihn je vergessen?!
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