Neue
Klettertouren in der Sächsischen Schweiz
seit dem Jahre 1908
Als im Sommer 1908 unter dem Titel Der Bergsteiger in der Sächsischen
Schweiz" der erste und bisher einzige Führer durch die Kletterfelsen des Elbsandsteingebirges veröffentlicht wurde, da schien er just zur rechten Zeit zu kommen, denn in den legten vier Jahren vorher waren mehr neue Klettertouren ausgeführt worden, als je zuvor im doppelten Zeiträume, Probleme waren gelöst worden, an die man sich früher überhaupt nicht herangewagt hatte, aber auch bescheidenere Felsen hatte man zum ersten Male eines Besuches gewürdigt und gar viele bisher verborgen gebliebene Wege entdeckt; kurz, es schien, als wäre nun das Gebiet bis ins Einzelne erschlossen, als wären die Lorbeeren der neuen Touren bis auf wenige Blätter vergeben.
So haben wir nun fast die ganze Sächsische Schweiz durchwandert von Rathen bis Herrnskretschen; viele altbekannte
Felsennamen
kamen uns dabei zu Ohren, den und jenen aber hörten wir zum ersten Male.
Manchen in letzter Zeit so viel genannten Namen wird freilich der
Eingeweihte zu seinem Staunen vermissen. Zumeist nicht ohne Grund; denn
ich schließe mich der Ansicht an, die alle mit künstlichen Hilfsmitteln
erkletterten Türme und Wege nicht als sportgerechte Touren anerkennt, mögen
sie auch noch so schwierig sein; Raubschloßwächter, Südlicher Drilling [Friensteinwächter
und Hauptdrilling] und ähnliche Klettereien haben also hier keine Statt gefunden.
Die besonderen Verhältnisse in unserem Mittelgebirge zwingen uns,
uns selbst unsere sportlichen Gesetze unabhängig von dem, was für alpine
Bergfahrten gilt, zu schaffen und dazu gehört der Satz: „Alle künstlichen
Hilfsmittel sind zu verwerfen; auszunehmen sind nur Abseilen beim Abstieg
und der Gebrauch von Kletterschuhen (soweit man diese überhaupt dazu
rechnen will)." Wir müssen diesen Satz aufstellen, denn sobald die
Benutzung künstlicher Hilfsmittel freigegeben wird, würde jeder die
ihm mangelnde Technik durch Meißeln von Stufen, Eintreiben von
Eisenstiften und dergl. zu ersehen suchen, und viele unserer schönsten
Felsen würden bald kaum mehr wiederzuerkennen sein.
Es ist kürzlich eine Definition des viel umstrittenen Begriffes
„künstliche Hilfsmittel" aufgestellt worden; sie sei hier
wiedergegeben, so grob sie auch zugeschnitten ist; vielleicht gelingt es
doch, die widerstrebenden Meinungen zu einen: Künstliches Hilfsmittel ist die zwischen Mensch
und Fels beim Ersteigungsangriffe eingeführte Hilfsgröße, zu dem Zwecke
benutzt, die Überwindung der Schwerkraft zu ermöglichen oder zu
erleichtern.
Viel bedeutsame Neubesteigungen werden wir im
Elbsandsteingebirge nicht mehr erleben. Die Möglichkeiten neuer Touren
sind so ziemlich erschöpft, die Klettertechnik hat hier ihre höchste
Vollendung erreicht, wie sonst wohl nirgends auf der Erde. Und wenn der
und jener Turm noch unbesiegt zum Äther starrt und ohne Anwendung künstlicher
Hilfsmittel unersteiglich ist, dann wollen wir ihn nicht durch
hinterlistige Kniffe seiner Freiheit berauben. Trotzig und in
ungebrochener Kraft mag er dann der Menschenkinder spotten, bis auch er
der großen Würgerin Vernichtung zum Opfer wird. Es gibt ja keinen
Paragraphen, in dem steht: „Du mußt alle Felsen erstiegen haben."
Es ist doch so lustig, auch solche nie besiegte Gesellen neben der großen
Zahl derer zu haben, die sich ergeben mußten. Wir wollen uns ihrer freuen
und — sie bewundern!