Kreuzturm Nordwand

   

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Foto: Walter Hahn

DIE NORDWAND AM KREUZTURM
Otto Jüngling

   

Längst hatte der Lehrling den Meister überflügelt. Seit wir erstmals uns begegnet und bei gemeinsamer Besteigung des Falkensteins über Ost- und Turnerweg sowie der Ostertürme über Klar- und Nordweg Freundschaft geschlossen hatten, war kaum ein halbes Jahr verflossen, als er an dem von mir schon mehrfach vergeblich im Alleingang versuchten Winkelweg des Hohen Torsteins mit dessen Erstbegehung seine Gesellenprüfung ablegte. Es folgten die ersten Begehungen des Westweges am Zweiten Lehnsteigturm, des südöstlichen Pfeilerweges am nordöstlichen Bussardturm, des Nordostweges am Bergfried und des Nord­ostweges an der Zinne des Falkensteins, so daß ich die Überzeugung gewann, daß er nun auch größeren Problemen gewachsen sei, mein mir bereits zum unzer­trennlichen Seilgefährten gewordener Bergkamerad Emanuel Strubich.

So wagte ich es, ihn bei einer Besteigung des Kreuzturms und des Bloßstocks im Abstieg vom Wenzelweg aus auf eines der Hauptprobleme meiner „Wunschliste" aufmerksam zu machen, dessen Möglichkeit meinen schwachen Augen unerkennbar war: die Kreuzturmnordwand.

Vom Absatz des Wenzelweges läßt sich die entscheidende Stelle dieser Wand, das obere Band, vorzüglich betrachten; der übrige Teil des gedachten Weges lag von Natur klar vorgezeichnet.

Nach eingehendem Studium erklärte Mani den Quergang als eines Versuches wert. In der Scharte angelangt, wurde auch sofort der untere Quergang probiert. Wir kamen allerdings bei der schon vorgeschrittenen Tageszeit nicht weit und verschoben den Angriff auf den folgenden Sonntag.

Es dauerte ein paar Tage länger. Erst am Mittwoch konnte Mani seinen Urlaub antreten und nachkom­men. Waren auch diese ersten Novembertage noch verhältnismäßig warm und die an sich wenigen Kletterer in der damaligen Kriegszeit — wir schrieben das Jahr 1915 — während der Wochentage nicht in den Bergen, so daß wir völlig ungestört und unbeobachtet waren, so wehte doch ein ziemlich scharfer Westwind, der es Mani unmöglich machte, an den winzigen Griffchen und Tritten des unteren Bandes das Gleichgewicht sicher genug aufrechtzuerhalten. Um einem Absturz schon hier unten vorzubeugen, schlug er einen Ring. Es half ihm dies jedoch auch nicht weiter. Wir gaben deshalb den Versuch auf und wandten uns anderen Felsen zu.

Im neuen Jahr mußten wir uns natürlich erst wieder einklettern, um die Glieder für Feinarbeit geschmeidig zu bekommen. Das geschah bereits in den März- und ersten Apriltagen, u. a. mit einem neuen Aufstieg auf den Rauschenstein zwischen Neuberweg und der damals noch unbezwungenen Südwestkante, sowie mehreren Zweitbegehungen besonders schwieriger Wege an Leuchterweibchen und Schützelkopf. Am 9. April 1916 glaubten wir, einen neuerlichen Versuch wagen zu dürfen, doch scheiterte auch dieser an der gleichen Stelle wie die vorhergegangenen. Dafür mußte die Morsche Zinne mehrfach daran glauben, der dabei der Südostweg abgerungen wurde.

Doch schon am folgenden Sonntag waren wir wieder da. Der Erfolg oder richtiger: Mißerfolg blieb der gleiche. Am Satanskopf hielten wir uns schadlos; der Winkelweg gelang auf Anhieb.

Sträubte sich unsere Wand auch noch so sehr, wir ließen uns nicht abschrecken. Eine Woche später griffen wir erneut an. Und wieder war alle Mühe vergebens. Immer an der gleichen Stelle schlug uns die Wand ab. Heute waren wir beobachtet worden. Nun wurde es höchste Zeit, zum Sturm überzugehen.

Der 30. April 1916 brach an. Mit dem Vieruhrzug fuhren wir hinaus, um vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein. Ungesehen kamen wir ans Ziel. Noch mußten wir bei einem kleinen Feuerchen warten, bis die Morgenkühle gewichen war. Dann aber standen wir sogleich beide auf den uns schon reichlich bekannten Plätzen. Schnell hatte Strubich den Ring erreicht, kannte er doch bis dahin jeden Griff und Tritt. Diesmal wehte nur ein leises Lüftchen von Osten. Manis schon sattsam bekannte Rückzugsbegründung fiel daher aus. Er dachte aber auch gar nicht daran. Nur wenige Augenblicke verweilte er nach dem Einseilen an den Ring (Karabiner verwandten wir zu jener Zeit noch nicht) an der kritischen Stelle, dann schob er sich mit den für ihn so typischen, ebenso vorsichtigen wie geschmeidigen und flüssigen Bewegungen weiter nach rechts hinaus. Rasch war der schräg rechts aufwärts ziehende Hangelriß erreicht, an dessen unterem Ende in Bandhöhe ein großer Tritt beiden Füßen bequemen Stand bot. Nach dem guten Beginn suchte Mani keine große Rast; höher oben bei einer kleinen Birke lockte nahe der Westkante ein noch viel luftigeres Plätzchen. Schnell ging er die Hangel hoch, und schon saß er, vergnügt lachend, neben dem maigrünen Bäumchen, aufmerksam den hier beginnenden Quergang musternd.

„Nachkommen!" hallte sein Ruf herab. Mit etwas gemischten Gefühlen betrat ich den Weg, der uns so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte, war doch die Sicherung durch den in gleicher Höhe befindlichen Ring ziemlich problematisch. Es ging besser als gedacht. Das Aus- und Einseilen am Ring kostete ein paar Minuten Zeit. Endlich konnte es weitergehen. Mit größter Vorsicht tastete ich mich voran, denn die schräg nach oben führende Sicherung hätte mich bei einem Abgleiten nicht vor einem weiten Hinauspendeln bis zur Westkante bewahrt.

Glücklich erreichte die Rechte die Hangel. Ich atmete befreit auf, als der rechte Fuß nach weitem Spreizschritt den großen Tritt fühlte. Die Linke faßte nach — da brach knirschend der Block heraus und polterte in die Tiefe, wo er in tausend Trümmer zerschellte. Mani straffte in Sekundenschnelle das Seil, doch meine Hände hielten fest. Mit etwas zwiespältigen Gefühlen klomm ich zur Birke hinauf.

Strubich räumte mir seinen vorzüglichen Platz. Wir wechselten einige Bemerkungen über das nächste Wegstück und einigten uns über die sicherste Seilführung; einen Ring hielt Mani für überflüssig. Das Birkenstämmchen war zwar nur etwa daumenstark, aber fest nach unten und oben verwurzelt, und selbst bei einem Sturz bestand keine Gefahr, es herauszureißen. Im Wurzelbogen lag das Seil völlig sicher, zumal es ja noch in der üblichen Weise über meine Schulter lief. So konnte der entscheidende Gang unbesorgt angetreten werden. Das übersehbare Stück bis zu einer leicht vorspringenden Wandstelle bot geringere Schwierigkeiten als befürchtet. Dann aber war ein bedenklicher Trittwechsel erforderlich, zu dem nur für eine Hand ein schwacher Reibungsgriff vorhanden war. Manis unübertreffliche Sicherheit gab mir auch hier keinen Anlaß zu Befürchtungen, wie auch er sich auf meine Sicherung unbedingt verlassen konnte. Bald verschwand er meinen Blicken um den Vorsprung und tauchte etwas höher wieder auf. „Gemacht!" war sein einziges Wort, und nach einer Pause:

„Komm!" überraschenderweise machte mir dieser Quergang weniger zu schaffen als der untere. Eher als gedacht war ich bei Mani, und froh drückten wir uns wortlos die Hände. Der nun folgende Riß konnte uns kaum noch aufhalten.

Ziemlich früh am Vormittag betraten wir den Gipfel. Die Nordwand hatte sich unserem heißen Werben ergeben. Nochmals ein fester Händedruck, ein frohes „Bergheil!" — da schallten von unten Rufe herauf. In unserer Kletterfreude hatten wir nicht bemerkt, daß wir beobachtet worden waren. Wir erwiderten nur kurz und streckten uns dann auf dem Gipfel in der warmen Sonne aus und genossen beseligt die Ruhe. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir, Hunger und Durst vergessend, da oben köstliche Gipfelrast hielten. Es war wohl schon in den späten Nachmittagsstunden, als wir auf dem Alten Wege zur Scharte abstiegen und ein wenig aßen. Dann eilten wir an den Ostwänden der Morschen Zinne hoch zur Scharte am Bergleib und zur Oberen Affensteinpromenade, um, zufrieden mit dem Erfolg des Tages, nach Schmilka zu gehen. Erst dort in der „Helvetia" wurde der nun energisch sein Recht fordernde Magen befriedigt, und bei einigen Glas schäumenden Münchner Bieres feierten wir den errungenen Sieg.

Im Bergsteigereck des Hauptbahnhofes gab es noch einen lärmenden Empfang. Hier hatten die Beobachter schon die große Neuigkeit verkündet, ohne allerdings sagen zu können, wer sie vollführt hatte. Aber man hatte uns schon zu oft da in der Gegend gesehen. Der Versuch unserer Ablehnung fand keinen Glauben. Man sagte uns die Tat auf den Kopf zu. Schleunigst konnten wir uns nur aus dem Staube machen, um all den mehr oder minder aufrichtigen Glückwünschen zu entgehen, waren wir doch beide keine Freunde solch lauten Treibens.

Mit dieser Leistung war Strubich, den man trotz seiner schon zahlreichen Neutouren bisher noch nicht ganz voll genommen hatte, in die Reihe der besten Könner eingetreten und wurde allseitig als solcher anerkannt. Dennoch änderte er sich in keiner Weise. Nach wie vor bestand er darauf, daß ich bei neuen Problemen die Führung übernahm, wenn er mein schwächeres Können für ausreichend hielt.  Immer blieb er der bescheidene, zurückhaltende Mensch, als den ich ihn bei unserem ersten Zusammentreffen erkannt und geschätzt hatte. Wir brauchten nur wenige Worte, um einander zu verstehen. Meinungsverschiedenheiten traten kaum jemals auf, und geschah es doch, so klärten sie sich bald in verständnisvoller Einsicht.

Es war aber auch eine ganz seltene Kameradschaft, die uns verband. Schlug der eine etwas vor, so war es fast immer der gleiche Gedanke, der auch den anderen beseelte. Daß schon ein Jahr später meine Heirat das bisher pausenlose Zusammensein in den Bergen nicht mehr zuließ, hat Mani schwer empfunden. Auch mir war es, als fehle mir ein Teil meines eigenen Ichs.

Nur zu bald schloß sein tragischer Bergtod ein Leben ab, das bei all seinen großen Erfolgen doch unvollendet geblieben ist.

Sein Werk besteht weiter. Die Erinnerung an diesen großen Bergsteiger wird in unseren Bergen nie verblassen.

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