Längst
hatte der Lehrling den Meister überflügelt. Seit wir erstmals uns
begegnet und bei gemeinsamer Besteigung des Falkensteins über Ost- und
Turnerweg sowie der Ostertürme über Klar- und Nordweg Freundschaft
geschlossen hatten, war kaum ein halbes Jahr verflossen, als er an dem von
mir schon mehrfach vergeblich im Alleingang versuchten Winkelweg des Hohen
Torsteins mit dessen Erstbegehung seine Gesellenprüfung ablegte. Es
folgten die ersten Begehungen des Westweges am Zweiten Lehnsteigturm, des
südöstlichen Pfeilerweges am nordöstlichen Bussardturm, des
Nordostweges am Bergfried und des Nordostweges an der Zinne des
Falkensteins, so daß ich die Überzeugung gewann, daß er nun auch größeren
Problemen gewachsen sei, mein mir bereits zum unzertrennlichen Seilgefährten
gewordener Bergkamerad Emanuel Strubich.
So wagte
ich es, ihn bei einer Besteigung des Kreuzturms und des Bloßstocks im
Abstieg vom Wenzelweg aus auf eines der Hauptprobleme meiner
„Wunschliste" aufmerksam zu machen, dessen Möglichkeit meinen
schwachen Augen unerkennbar war: die Kreuzturmnordwand.
Vom
Absatz des Wenzelweges läßt sich die entscheidende Stelle dieser Wand,
das obere Band, vorzüglich betrachten; der übrige Teil des gedachten
Weges lag von Natur klar vorgezeichnet.
Nach
eingehendem Studium erklärte Mani den Quergang als eines Versuches wert.
In der Scharte angelangt, wurde auch sofort der untere Quergang probiert.
Wir kamen allerdings bei der schon vorgeschrittenen Tageszeit nicht weit
und verschoben den Angriff auf den folgenden Sonntag.
Es
dauerte ein paar Tage länger. Erst am Mittwoch konnte Mani seinen Urlaub
antreten und nachkommen. Waren auch diese ersten Novembertage noch verhältnismäßig
warm und die an sich wenigen Kletterer in der damaligen Kriegszeit — wir
schrieben das Jahr 1915 — während der Wochentage nicht in den Bergen,
so daß wir völlig ungestört und unbeobachtet waren, so wehte doch ein
ziemlich scharfer Westwind, der es Mani unmöglich machte, an den winzigen
Griffchen und Tritten des unteren Bandes das Gleichgewicht sicher genug
aufrechtzuerhalten. Um einem Absturz schon hier unten vorzubeugen, schlug
er einen Ring. Es half ihm dies jedoch auch nicht weiter. Wir gaben
deshalb den Versuch auf und wandten uns anderen Felsen zu.
Im neuen
Jahr mußten wir uns natürlich erst wieder einklettern, um die Glieder für
Feinarbeit geschmeidig zu bekommen. Das geschah bereits in den März- und
ersten Apriltagen, u. a. mit einem neuen Aufstieg auf den Rauschenstein
zwischen Neuberweg und der damals noch unbezwungenen Südwestkante, sowie
mehreren Zweitbegehungen besonders schwieriger Wege an Leuchterweibchen
und Schützelkopf. Am 9. April 1916 glaubten wir, einen neuerlichen
Versuch wagen zu dürfen, doch scheiterte auch dieser an der gleichen
Stelle wie die vorhergegangenen. Dafür mußte die Morsche Zinne mehrfach
daran glauben, der dabei der Südostweg abgerungen wurde.
Doch
schon am folgenden Sonntag waren wir wieder da. Der Erfolg oder richtiger:
Mißerfolg blieb der gleiche. Am Satanskopf hielten wir uns schadlos; der
Winkelweg gelang auf Anhieb.
Sträubte
sich unsere Wand auch noch so sehr, wir ließen uns nicht abschrecken.
Eine Woche später griffen wir erneut an. Und wieder war alle Mühe
vergebens. Immer an der gleichen Stelle schlug uns die Wand ab. Heute
waren wir beobachtet worden. Nun wurde es höchste Zeit, zum Sturm überzugehen.
Der 30.
April 1916 brach an. Mit dem Vieruhrzug fuhren wir hinaus, um vor
unliebsamen Überraschungen sicher zu sein. Ungesehen kamen wir ans Ziel.
Noch mußten wir bei einem kleinen Feuerchen warten, bis die Morgenkühle
gewichen war. Dann aber standen wir sogleich beide auf den uns schon
reichlich bekannten Plätzen. Schnell hatte Strubich den Ring erreicht,
kannte er doch bis dahin jeden Griff und Tritt. Diesmal wehte nur ein
leises Lüftchen von Osten. Manis schon sattsam bekannte Rückzugsbegründung
fiel daher aus. Er dachte aber auch gar nicht daran. Nur wenige
Augenblicke verweilte er nach dem Einseilen an den Ring (Karabiner
verwandten wir zu jener Zeit noch nicht) an der kritischen Stelle, dann
schob er sich mit den für ihn so typischen, ebenso vorsichtigen wie
geschmeidigen und flüssigen Bewegungen weiter nach rechts hinaus. Rasch
war der schräg rechts aufwärts ziehende Hangelriß erreicht, an dessen
unterem Ende in Bandhöhe ein großer Tritt beiden Füßen bequemen Stand
bot. Nach dem guten Beginn suchte Mani keine große Rast; höher oben bei
einer kleinen Birke lockte nahe der Westkante ein noch viel luftigeres Plätzchen.
Schnell ging er die Hangel hoch, und schon saß er, vergnügt lachend,
neben dem maigrünen Bäumchen, aufmerksam den hier beginnenden Quergang
musternd.
„Nachkommen!"
hallte sein Ruf herab. Mit etwas gemischten Gefühlen betrat ich den Weg,
der uns so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte, war doch die Sicherung
durch den in gleicher Höhe befindlichen Ring ziemlich problematisch. Es
ging besser als gedacht. Das Aus- und Einseilen am Ring kostete ein paar
Minuten Zeit. Endlich konnte es weitergehen. Mit größter Vorsicht
tastete ich mich voran, denn die schräg nach oben führende Sicherung hätte
mich bei einem Abgleiten nicht vor einem weiten Hinauspendeln bis zur
Westkante bewahrt.
Glücklich
erreichte die Rechte die Hangel. Ich atmete befreit auf, als der rechte Fuß
nach weitem Spreizschritt den großen Tritt fühlte. Die Linke faßte nach
— da brach knirschend der Block heraus und polterte in die Tiefe, wo er
in tausend Trümmer zerschellte. Mani straffte in Sekundenschnelle das
Seil, doch meine Hände hielten fest. Mit etwas zwiespältigen Gefühlen
klomm ich zur Birke hinauf.
Strubich
räumte mir seinen vorzüglichen Platz. Wir wechselten einige Bemerkungen
über das nächste Wegstück und einigten uns über die sicherste Seilführung;
einen Ring hielt Mani für überflüssig. Das Birkenstämmchen war zwar
nur etwa daumenstark, aber fest nach unten und oben verwurzelt, und selbst
bei einem Sturz bestand keine Gefahr, es herauszureißen. Im Wurzelbogen
lag das Seil völlig sicher, zumal es ja noch in der üblichen Weise über
meine Schulter lief. So konnte der entscheidende Gang unbesorgt angetreten
werden. Das übersehbare Stück bis zu einer leicht vorspringenden
Wandstelle bot geringere Schwierigkeiten als befürchtet. Dann aber war
ein bedenklicher Trittwechsel erforderlich, zu dem nur für eine Hand ein
schwacher Reibungsgriff vorhanden war. Manis unübertreffliche Sicherheit
gab mir auch hier keinen Anlaß zu Befürchtungen, wie auch er sich auf
meine Sicherung unbedingt verlassen konnte. Bald verschwand er meinen
Blicken um den Vorsprung und tauchte etwas höher wieder auf.
„Gemacht!" war sein einziges Wort, und nach einer Pause:
„Komm!"
überraschenderweise machte mir dieser Quergang weniger zu schaffen als
der untere. Eher als gedacht war ich bei Mani, und froh drückten wir uns
wortlos die Hände. Der nun folgende Riß konnte uns kaum noch aufhalten.
Ziemlich
früh am Vormittag betraten wir den Gipfel. Die Nordwand hatte sich
unserem heißen Werben ergeben. Nochmals ein fester Händedruck, ein
frohes „Bergheil!" — da schallten von unten Rufe herauf. In
unserer Kletterfreude hatten wir nicht bemerkt, daß wir beobachtet worden
waren. Wir erwiderten nur kurz und streckten uns dann auf dem Gipfel in
der warmen Sonne aus und genossen beseligt die Ruhe. Ich weiß nicht mehr,
wie lange wir, Hunger und Durst vergessend, da oben köstliche Gipfelrast
hielten. Es war wohl schon in den späten Nachmittagsstunden, als wir auf
dem Alten Wege zur Scharte abstiegen und ein wenig aßen. Dann eilten wir
an den Ostwänden der Morschen Zinne hoch zur Scharte am Bergleib und zur
Oberen Affensteinpromenade, um, zufrieden mit dem Erfolg des Tages, nach
Schmilka zu gehen. Erst dort in der „Helvetia" wurde der nun
energisch sein Recht fordernde Magen befriedigt, und bei einigen Glas schäumenden
Münchner Bieres feierten wir den errungenen Sieg.
Im
Bergsteigereck des Hauptbahnhofes gab es noch einen lärmenden Empfang.
Hier hatten die Beobachter schon die große Neuigkeit verkündet, ohne
allerdings sagen zu können, wer sie vollführt hatte. Aber man hatte uns
schon zu oft da in der Gegend gesehen. Der Versuch unserer Ablehnung fand
keinen Glauben. Man sagte uns die Tat auf den Kopf zu. Schleunigst konnten
wir uns nur aus dem Staube machen, um all den mehr oder minder
aufrichtigen Glückwünschen zu entgehen, waren wir doch beide keine
Freunde solch lauten Treibens.
Mit
dieser Leistung war Strubich, den man trotz seiner schon zahlreichen
Neutouren bisher noch nicht ganz voll genommen hatte, in die Reihe der
besten Könner eingetreten und wurde allseitig als solcher anerkannt.
Dennoch änderte er sich in keiner Weise. Nach wie vor bestand er darauf,
daß ich bei neuen Problemen die Führung übernahm, wenn er mein schwächeres
Können für ausreichend hielt. Immer
blieb er der bescheidene, zurückhaltende Mensch, als den ich ihn bei
unserem ersten Zusammentreffen erkannt und geschätzt hatte. Wir brauchten
nur wenige Worte, um einander zu verstehen. Meinungsverschiedenheiten
traten kaum jemals auf, und geschah es doch, so klärten sie sich bald in
verständnisvoller Einsicht.
Es war
aber auch eine ganz seltene Kameradschaft, die uns verband. Schlug der
eine etwas vor, so war es fast immer der gleiche Gedanke, der auch den
anderen beseelte. Daß schon ein Jahr später meine Heirat das bisher
pausenlose Zusammensein in den Bergen nicht mehr zuließ, hat Mani schwer
empfunden. Auch mir war es, als fehle mir ein Teil meines eigenen Ichs.
Nur zu
bald schloß sein tragischer Bergtod ein Leben ab, das bei all seinen großen
Erfolgen doch unvollendet geblieben ist.
Sein
Werk besteht weiter. Die Erinnerung an diesen großen Bergsteiger wird in
unseren Bergen nie verblassen.