Perry-Smith
schrieb oft aus Amerika, er hoffe, bald wieder nach Dresden zu kommen, zur
Zeit müsse er arbeiten wie ein Teufel. Was er in Amerika gearbeitet hat,
habe ich nie erfahren. In seinen Briefen betonte er immer wieder, daß der
Torwächter, von dem wir mehrfach abgeschlagen worden waren, zu besteigen
sei. Er übte sich in Amerika an der Granitaußenmauer eines Hauses im
Klettern. Bilder von dieser Kletterei schickte er mir, und ich konnte
sehen, dass der gute Freund der reinste Fassadenkletterer geworden war. Im
August 1905 traf Perry-Smith aus Amerika ein. Er war sehr
niedergeschlagen, und seine ersten Worte waren: „Kann ich einen Monat
bei dir wohnen und essen? Ich habe fast mein ganzes Geld auf dem Schiff
verspielt!" Auf den Ozeandampfern gab es raffinierte Spieler, die die
„Grünhörner" gehörig ausnahmen. Perry-Smith wurde von meinen
Eltern gern aufgenommen. Wir fuhren nun aus Gründen der Sparsamkeit nur
bis Pirna, wanderten bis Rathen und kletterten dort. Anfang September 1905
schrieb mir ein Bergsteiger, dass Rudolf Nake den Kleinen Prebischkegel
bestiegen habe. Ich zeigte die Karte meinem Freund Perry. Die Wirkung war
erschreckend. Perry-Smith wurde blaß, starrte mich an, und dann kam eine
Flut von Schimpfworten gegen Nake, daß ich mich über diesen Wortschatz
sehr gewundert habe. Endlich beruhigte er sich und sagte: „Wir müssen
übermorgen den Torwächter besteigen, sonst geht dieser Nake noch da
hinauf!" Ich erklärte, daß erst der Schmied einen Sicherungs und
einen Abseilring anfertigen müsse, und daß wir unbedingt einen dritten
Mann brauchen, also müsse die Sache um eine Woche verschoben werden. Wir
luden Hanns Schneller, der in Radeberg wohnte, ein. Rudolf Fehrmann war
leider in Leipzig.
Am
10. September 1905 fuhren wir mit dem ersten Zug nach Schandau, immer in
der Furcht, daß der Torwächter schon bestiegen worden sei. Als wir den
Vorgipfel des Torwächters erreichten, saß bereits ein junger Bergsteiger
da mit Seil, Hammer, Meisel und Abseilring und starrte zur Torwächterwand.
Perry-Smith fauchte ihn an: „Nun, wenn Sie den Torwächter besteigen
wollen, dann schnell, wir wollen auch versuchen!" Erschrocken nahm
der junge Bergsteiger Seil und Schlagzeug und stieg eilig ab. Nun war der
Weg für Perry-Smith frei. Er stieg an und kam bis unter den Überhang.
Hier schlug er einen Sicherungsring, dann seilte er sich zu uns ab, um
sich zu stärken. Bald begann die Überwindung der Schlußwand. Die Wand,
besonders im oberen Teil, war mit einer dünnen Flechte bedeckt. Da es
nachts geregnet hatte, hob die nasse Flechte fast jede Reibung auf. Es
waren aufregende Minuten, die Perry-Smith zur Überwindung des Überhanges
und der Schlußwand brauchte. Doch bald ertönte sein Bergheil vom Gipfel,
und Schneller und ich stiegen zu unserem Freund. Von dem Gipfel der Tante
ertönte ein herzliches Bergheil, gerufen von den Mitgliedern des 1905
gegründeten Clubs der Gipfelstürmer. Perry-Smith war immer noch
aufgeregt. Anstatt eine Gipfelpfeife zu rauchen, seilte er sich los und
lief immer dicht am Rande des Gipfels umher. Ich bat ihn, sich zu setzen,
sonst könne er noch abstürzen. Er antwortete, daß er nur probieren
wolle, ob er noch schwindelfrei sei. Ich sagte ihm, daß er davon schon
genügend Beweise gegeben hätte. Wir seilten uns bald ab und wanderten in
den Schrammsteinen. Der Torwächter war die erste Neubesteigung in unserem
Felsengebirge, die Perry-Smith geführt hat. Die Erstbesteigung des
Prebischkegels und des Torwächters war das Signal zu einer Fülle von
Neuersteigungen, bei denen die Namen von Rudolf Fehrmann und Oliver
Perry-Smith an erster Stelle zu nennen sind. Es folgte die große Zeit der
Entwicklung des sächsischen Bergsteigens. Ich nenne nur die drei
Marksteine: Barbarine — Weinertweg am Vexierturm — und Talseite vom
Teufelsturm. Für die
Neubesteigungen soll das Wort gelten:
„Die
Tat ist alles, der Ruhm ist nichts!'