Begegnung mit Perry
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Zu meinen Kletterfahrten 1901-1902 hatte ich keine treuen Seilgefährten, das heißt mehr als zwei oder drei Touren machte kein Turnbruder mit, dann gab er das Klettern wieder auf. Am ersten Sonntag im Mai 1902 bestieg ich mit einem Freund den Gipfel des Hinteren Gansfelsens. Das Wetter war herrlich. Ein Maientag, wie er sein soll, windstill, warm und klare Aussicht. Wir zwei saßen auf dem Gipfel, rauchten unsere Pfeifen und freuten uns über die Schönheit unserer Berge. Kein Gipfel im Umkreis war bestiegen, wir waren die einzigen Kletterer in diesem Gebiet. Gesprochen wurde fast nichts, immer nur schauten wir in die schöne Heimat. Plötzlich hörte ich im Kamin, der zu unserem Gipfel führte, ein Scharren, Ächzen, Fluchen und Keuchen. Sehr oft hörte ich das Wort ,,Goddam". Nach kurzer Zeit stieg ein junger Mann aus dem Kamin, stutzte, als er uns sah, grüßte und setzte sich an die andere Ecke des Gipfels. Ich hielt ihn für einen Engländer, denn englische Familien bewohnten damals in Dresden ein Stadtviertel. Der Angekommene war etwa 18 Jahre alt, trug alpine Nagelschuhe, einen sehr guten englischen Sportanzug und breitkrempigen Hut. Wir hatten keine Lust, uns bei einem Fremden anzubiedern und warteten ab. Bald stand der fremde Bergsteiger auf und fragte, wie er den vorderen Gipfel erreichen könne. Ich erklärte ihm den Weg, und er stieg weiter. Nach einiger Zeit folgten wir seinen Spuren, denn wir hatten die Absicht, den Gühnekamin abzusteigen. An der Schlußwand zum Gipfel des Vorderen Gansfelsens stand der fremde Bergsteiger und erklärte, daß er diese Wand allein und in Nagelschuhen nicht gebracht habe. Ich stieg zum Gipfel, bot ihm unser Seil als Sicherung an, und bald standen wir drei oben. Er stellte sich vor: Oliver Perry-Smith aus Philadelphia, und erzählte, daß er hier klettern wolle, um sich für Hochtouren in der Schweiz zu üben. Er bat uns, ihn am Seil bei dem Abstieg durch den Gühnekamin mitzunehmen. Ich willigte ein, da ich befürchtete, daß er bei einem Alleingang durch den Hartmannweg bei seiner Ungeübtheit abstürzen könne. Bei dem Abstieg durch den Gühnekamin hat sich Perry-Smith tadellos benommen. Er stieg vorsichtig, sicherte gut und war hilfsbereit, wo er nur konnte. Glücklich erreichten wir den Fuß des Felsens. Doch wie sah die schöne Sporthose aus? Der Hosenboden hing in Fetzen herunter, und auch die Unterwäsche war zerrissen. Es war unmöglich, in solch einem Aufzug nach Hause zu gehen, und ich borgte ihm meinen Wettermantel, damit er die Blöße zudecken konnte. Als wir das Amselgrundschlößchen erreichten, lud uns Perry-Smith zu einem Glas Bier ein. Ich lehnte ab, da ich mittags nicht gern Bier trinke, und wir bis Wehlen wandern mußten, denn unsere Fahrkarte war aus Sparsamkeitsgründen nur bis Wehlen gelöst. Perry-Smith lief lange Zeit nachdenklich neben uns, plötzlich sagte er, daß es in Amerika eine große Beleidigung sei, einen ,,drink" abzulehnen. Ich antwortete, daß das in Deutschland nicht der Fall sei. In Wehlen angekommen, setzten wir uns in den Garten eines an der Elbe gelegenen Gasthauses und bestellten Kaffee; eine Tasse Bohnenkaffee kostete 15 Pfennige Perry-Smith fragte, ob er uns eine Zigarre schenken dürfe. Wir waren einverstanden, denn eine gute Zigarre kostete 10 Pfennige. Er bestellte bei der Kellnerin drei Habanna-Zigarren. Mein Freund und ich erschraken, und wir hofften, daß es in Wehlen bestimmt keine Hahannas gäbe. Die Kellnerin brachte drei Habanna-Zigarren mit Bauchbinde, Marke "Henry Clay", das Stück zu 50 Pfennigen. Es war die erste Habanna, die ich in meinem Leben rauchte, sie hat recht gut geschmeckt. Auf der Heimfahrt gab es drei frohe Menschen. Am nächsten Tag brachte Perry-Smith den geborgten Wettermantel zurück und bat, mit ihm am kommenden Sonntag zu klettern.
Nun begann ein schönes, ungebundenes Bergsteigerleben. Jeden Sonntag fuhren wir in die Berge und immer kehrten wir glücklich und zufrieden heim. Wir mußten im Klettern noch viel lernen, aber je mehr wir kletterten, um so sicherer stiegen wir. Anschluß an andere Bergsteiger vermieden wir, wir gingen allein, einer konnte sich auf den anderen verlassen. Es war die schönste Kameradschaft, die es geben konnte. Bald hatten wir das Rathener und das Schrammsteingebiet mehrfach durchklettert, und wir suchten nach neuen Felsen.
Bei Friebel in Postelwitz und im Amselgrundschlößchen lernten wir Bergsteiger vom Klub der Mönchsteiner und von dem alten Club der Gipfelstürmer kennen. Die alten Gipfelstürmer bestanden etwa 1897 bis 1906. Diese Bergsteiger rieten uns, die Brosinnadel zu versuchen Zur Besteigung des in der Nähe gelegenen Bloßstocks und Kreuzturmes müßten wir nach viel lernen, das sei noch nichts für uns. Wir ließen uns den Weg beschreiben und mit einer Ansichtskarte von der Brosinnadel gingen wir auf die Suche. Wir fanden die Brosinnadel, und im ersten Ansturm war sie erstiegen. Doch schon beim Abstieg fiel das Wort Bloßstock.
Bei den Rucksäcken angelangt, fanden wir keine Zeit, die Schuhe zu wechseln; in Kletterschuhen rannten wir zum Bloßstock. Wir kannten keinen Zugang zu dem einzigen Aufstieg, dem Wenzelweg. Ich versuchte, die breite Schlucht zwischen Kreuzturm und Bloßstock hochzuspreizen. Es glückte, und nun begann der Anstieg des Wenzelweges. Der Rißanfang - diese Stelle wurde früher ,,Kirchl" genannt - oben eng und unten trichterförmig, war besonders schwer. Es war Zentimeterarbeit, doch es gelang. Der nun folgende enge Kamin machte mir keine Sorgen. Oberhalb des Rißbeginns fand ich guten Stand für die Füße, und ich ließ Perry-Smith nachkommen. Sein Brustkasten war kräftiger als meiner, und ich konnte mir denken, daß er an der engen Stelle große Mühe haben würde. Perry-Smith zwängte sich mit aller Kraft durch. Er rief, daß er eine Pause machen müsse, es sei furchtbar. Ich wartete. Plötzlich hörte ich ein regelmäßiges Bum - Bum - Bum, Ich fragte, was das wäre, das Bum - Bum - Bum. Er antwortete: "Es ist mein Herz". Auf etwa drei Meter Entfernung hörte ich, durch den Felsen weitergeleitet, den Herzschlag meines Freundes! Bald erreichten wir den Gipfel des Bloßstocks und waren glücklich, einen der schwersten Felsen der Heimatberge bestiegen zu haben. Das war im Sommer 1902. Um die Zeit der Jahrhundertwende war es eine Selbstverständlichkeit, Kamine und Risse abzusteigen und nicht abzuseilen. Nur an steilen Wänden, die ein Zurückklettern unmöglich machten, wurde abgeseilt. Unser Abstieg, besonders an der engen Stelle im Riß erforderte größte Vorsicht. Er glückte, auch die Schlucht zwischen Bloßstock und Kreuzturm spreizte ich ungesichert ab. Als wir bei der Heimfahrt Mitgliedern vom alten Club der Gipfelstürmer unsere geglückte Besteigung des Bloßstocks erzählten, gratulierten sie uns, sagten aber, daß der Kreuzturm noch schwerer und anstrengender sei. Für uns stand fest: Das nächste Ziel ist der Kreuzturm. Nach acht Tagen begann die Besteigung. Viel Mühe machte es, den Einstieg zum Riß zu finden. Der Riß war äußerst schwer und anstrengend, und ich war froh, als wir uns auf dem Gipfel die Hände drückten. Es war die vierte Besteigung. Auch der Abstieg vom Kreuzturm wurde ohne Seilhilfe für den Letzten durchgeführt. Um uns für die geplante Alpentur zu üben, bestiegen wir an mehreren Sonntagen Brosinnadel, Bloßstock und Kreuzturm an einem Tage.

Mit der Besteigung von Bloßstock und Kreuzturm war unsere Lehrzeit als Bergsteiger beendet. Wir konnten nun Erstbesteigungen versuchen. Unser größtes Interesse erregte die Lokomotive-Esse, hatten wir doch an der Lammseite eine Flasche mit Visitenkarten von Dr. Schuster und Dr. Brosin gefunden, die die Besteigung versucht hatten. Aber unsere Versuche im Herbst 1902 waren ohne Erfolg. Die erste Begehung eines neuen Weges glückte uns am 1. März 1903 am Falkenstein. Die untere Hälfte der hohen, wilden Schlucht und der anschließende Kamin südlich der Zinne wurden am 1. März 1903 von mir und Perry-Smith erstmalig durchstiegen. Die Besteigung des Schrammtorwächters wurde von uns mehrfach versucht, wir wurden abgeschlagen. Immer wieder zog es uns nach Rathen; die Lokomotiv-Esse mußte bestiegen werden. Es glückte am 7. Juni 1903. Über die Besteigung der Esse habe ich in Nr. 6 der Mitteilungen des SBB von 1919 ausführlich berichtet. Ich möchte hier noch folgendes erzählen: Als ich nach Überschreitung der Kluft den Quergang an der damals sehr brüchigen Wand durchgeführt hatte und im Riß stand, sagte ich zu Perry-Smith: ,,Der Riß geht, die Sache ist gemacht! Mein Freund konnte vor Aufregung nicht sprechen, er stieß nur einige unverständliche Laute aus. Ich glaube, einer schweren Besteigung zuzusehen, ist aufregender, als die Besteigung selbst durchzuführen. Die zweite Besteigung der Esse führte Perry-Smith am 22. Juni 1903. Teilnehmer waren Hermann Sattler, der Besteiger des Kreuzturms, und ich.


Albert Kunze "Plaudereien aus der Erschließerzeit" [11]

     

 

 

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